Ich bin als Arzt umgeben von Kranken, ich meine Ganzkranken, Halbkranken, und von mir so genannten Unkranken. Ich nenne sie deshalb nicht Gesunde, weil sie nicht gesund sind. Gesunde spielen in meinem Beruf nur in so fern eine Rolle, als sie zur Vorsorge vorbeikommen, oder als Genesende Erfolg widerspiegeln, am liebsten meinen eigenen als Therapeuten.

Unkranke sind Menschen, die meinen (fühlen), sie seien krank, an denen ich jedoch auch nach näherer innerer wie äußerlicher Beschäftigung mit ihnen nichts von Krankheitswert erkennen kann. Sie mögen zwar dennoch etwas ihnen Unangenehmes, Lästiges, Abartiges (Abnormales) haben, von denen ich sie jedoch nicht befreien kann. Unkranke sind zweifach „krank“: sie fühlen sich so und lassen nicht ab, ihre Umwelt auch so zu fühlen. Unkranke belasten unser Gesundheitssystem enorm. Die Dunkelziffer ist grenzenlos.

Bei den Kranken steht nach der imperativen Frage „wie krieg ich es weg?“ sogleich die Frage „wie ist es entstanden, was hat es hervorgerufen?“. In diesem Pathogenese-Denken spielt die Frage nach Risiken, welche die Krankheit provoziert oder unterstützt haben, eine große Rolle. War der Leidende zu dick oder zu dünn, hat er sich inadäquat ernährt, hat er sich zu wenig bewegt, hat er geraucht oder getrunken, hat er zu viel oder zu wenig gearbeitet, hat er zu wenig geschlafen? Oder hatte er die falschen Gene, lebt er am falschen (ungesunden) Ort, arbeitet er im falschen (ungesunden) Beruf.

Gott sei Dank gibt es auch Menschen, die einfach so krank werden, grundlos; ohne Schuld der Gene, ohne  eigene Schuld, ohne Schuld von anderen oder anderem; die einfach so krank werden, grundlos  – gottgewollt.

Grundlos Kranke sind mir die liebsten. Sie hadern nicht, nicht mit mir, nicht mit ihren Angehörigen, nicht mit ihrer Umwelt im weiteren Sinne, nicht mit sich selbst. Grundlos Kranke denken an Gott. Sie stellen nicht all die meist unbeantwortbaren Fragen nach dem wie, warum, weshalb, wieso gerade ich? Sie suchen keinen Schuldigen.

Oft habe ich erlebt, dass sie ihr Schicksal dankbar ertragen ob des noch größeren Elends um sie herum. Grundlos Kranke beten, falls ihr Leiden sie drückt.