Wer die Schuld an der Vielzahl der Arztbesuche, der Vielzahl der eingeforderten Rezepte und der Vielzahl der in Erwartung gebrachten Untersuchungen nur den gesundheitsgierigen Versicherten und den geldgierigen Leistungsanbietern  anlastet, der vergisst den Hauptsschuldigen. Er ist unsere auf Bildung, Wachstum und Wohlergehen, also Zivilisation getrimmte moderne Gesellschaft.

Die heutige Gesundheits- und Jungbleibgesellschaft als Überbau vermittelt: geh früh zum Arzt, versäume keine Vorsorgeuntersuchung, nimm jedes noch so flüchtige Symptom wahr, traue dem Arzt mehr als deiner Selbstheilung, kontrolliere stets deinen Lebenswandel, suche in Apotheken, Gesundheitszentren, Fitness- und Wellnesseinrichtungen und anderen Heil- und Vorbeugeeinrichtungen und in der Vielzahl der Health-Medien immer nach allem, was dir und deiner Gesundheit gut tun könnte.

Dem steht gegenüber: Der Arzt, der, statt Diagnostik im Rundumschlag zu verordnen, sich auf die symptombezogene Untersuchung beschränkt (und dann zwangsläufig symptomlos gebliebene, also sehr frühe Krankheiten nicht erkennen kann); der den Mut hat zu sagen, sie haben nichts, was sie befürchten, ist keine Krankheit sondern eine Befindlichkeitsstörung; der nicht stets den Zwang verspürt, auf Nummer sicher zu gehen und zu noch exakterer Diagnostik zu überweisen; der restriktiv mit Medikamentenverordnungen umgeht und auch einmal erklärt, dass Beschwerden von selbst weggehen; dem reden und Erklären mehr liegt als ständiges Agieren.

Gesundheitsgier ist unersättlich. Immer noch etwas gesünder werden, mehr Wohlergehen, mehr Funktion statt Verschleiß – Gesundheit, das höchste Gut? Deshalb ficht die Finanzkrise den großen Gesundheitsmarkt bisher weit weniger an als alle anderen Branchen. Die Gesundheitsbranche als Konjunkturmotor? Sicher nicht, denn die Medizin zweiter Klasse kann die Investitionen für das Immermehr nicht aufbringen. Und die Ersterklasse-Medizin will unter sich bleiben – nicht nur im Wartezimmer.