Kategorie: Deutsches Gesundheitswesen

Krankheitsangst und Gesundheitsgier

Wer die Schuld an der Vielzahl der Arztbesuche, der Vielzahl der eingeforderten Rezepte und der Vielzahl der in Erwartung gebrachten Untersuchungen nur den gesundheitsgierigen Versicherten und den geldgierigen Leistungsanbietern  anlastet, der vergisst den Hauptsschuldigen. Er ist unsere auf Bildung, Wachstum und Wohlergehen, also Zivilisation getrimmte moderne Gesellschaft.

Die heutige Gesundheits- und Jungbleibgesellschaft als Überbau vermittelt: geh früh zum Arzt, versäume keine Vorsorgeuntersuchung, nimm jedes noch so flüchtige Symptom wahr, traue dem Arzt mehr als deiner Selbstheilung, kontrolliere stets deinen Lebenswandel, suche in Apotheken, Gesundheitszentren, Fitness- und Wellnesseinrichtungen und anderen Heil- und Vorbeugeeinrichtungen und in der Vielzahl der Health-Medien immer nach allem, was dir und deiner Gesundheit gut tun könnte.

Dem steht gegenüber: Der Arzt, der, statt Diagnostik im Rundumschlag zu verordnen, sich auf die symptombezogene Untersuchung beschränkt (und dann zwangsläufig symptomlos gebliebene, also sehr frühe Krankheiten nicht erkennen kann); der den Mut hat zu sagen, sie haben nichts, was sie befürchten, ist keine Krankheit sondern eine Befindlichkeitsstörung; der nicht stets den Zwang verspürt, auf Nummer sicher zu gehen und zu noch exakterer Diagnostik zu überweisen; der restriktiv mit Medikamentenverordnungen umgeht und auch einmal erklärt, dass Beschwerden von selbst weggehen; dem reden und Erklären mehr liegt als ständiges Agieren.

Gesundheitsgier ist unersättlich. Immer noch etwas gesünder werden, mehr Wohlergehen, mehr Funktion statt Verschleiß – Gesundheit, das höchste Gut? Deshalb ficht die Finanzkrise den großen Gesundheitsmarkt bisher weit weniger an als alle anderen Branchen. Die Gesundheitsbranche als Konjunkturmotor? Sicher nicht, denn die Medizin zweiter Klasse kann die Investitionen für das Immermehr nicht aufbringen. Und die Ersterklasse-Medizin will unter sich bleiben – nicht nur im Wartezimmer.

Wunscherfüllende Medizin

Ziele der Medizin sind im medizinischen Grundverständnis verankert. Ohne die Besonderheiten der ärztlichen Grundhaltung lassen sich die Ziele in einem für die Gemeinschaft verträglichen Kontext nicht erreichen. Dabei werden die meisten Gesellschaften sich in Zukunft auf eine gesundheitsbezogene Grundversorgung beschränken müssen. Gemeint ist eine Krankheitsverhütung, welche eng verbunden ist:

  • mit einer Gesundheitsförderung durch Bildung, Erziehung und Unterweisung;
  • mit der Heilung von Krankheiten;
  • mit der Fürsorge, wenn Heilung nicht mehr möglich ist, verbunden mit Linderung von Schmerz und Erleichterung von krankheitsverursachtem Leid;
  • mit der Vermeidung eines frühzeitigen Todes und dem Streben nach würdigem Sterben.

Das medizinisches Grundverständnis, das nicht neu definierbar und damit nicht zur Disposition stehend ist, kann ins Wanken geraten, wenn Ökonomisierungszwänge zur Rationierung Anlass geben. Eine noch weiter fortschreitende Zwei- oder Mehrklassenmedizin bereitet dann den Boden für eine wunscherfüllende Medizin jenseits der medizinischer Grundversorgung.

Der traditionelle medizinsuchende Patient war krank oder fühlte sich so, und suchte  beim Arzt Linderung oder Heilung. In einigen medizinischen  Bereichen zeichnet sich nun ein neuer Ratsuchender, nämlich ein Nutzer medizinischer Leistungen als ein Klient ab. Im Internet teilgebildet braucht er medizinisches Wissen und Können nicht mehr dazu, um aus seinem Leiden das normale Elend zu machen. Vielmehr benötigt er ärztliche Expertise und industrielle Ware, um seine eigene körperliche Verfassung mit seiner gewünschten Lebensführung zur Deckung zu bringen. Er braucht den Leibarzt neuer Prägung und zahlt dafür. Schlagwörter in diesem Zusammenhang sind:

  • Vitaloptimierung,
  • Sexualoptimierung (Viagra etc.),
  • Schönheitschirurgie (z. B. Sissi-Krankheit),
  • Anti-Aging (Jugendwahn),
  • Lebensplanung (Reproduktionsoptimierung inklusiv vorgeburtliche Merkmalsfestlegung),
  • Alternativmedizin (Wellness statt Heilen)
  • und andere mehr.

Das ärztliche Grundverständnis gerät ins Wanken.

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