In unserer solidarisch ausgerichteten gesetzlichen Krankenversicherung von immer noch über hundert bundesdeutschen Krankenkassen erhalten Versicherte bzw. Beitragszahler alle medizinischen Leistungen, die zur Krankenversorgung notwendig, zur Heilung ausreichend und für das System wirtschaftlich sind, und zwar unabhängig von Einkommen, Alter oder Dauer der Zugehörigkeit.

Politiker und Sozialakteure bedienen sich gern des Begriffs Solidargemeinschaft, wenn es um das Feiern der Effizienz des Systems geht. Eigentlich gemeint ist damit lediglich, dass die Besserverdienenden dafür zu sorgen haben, dass die Schlechterverdienenden und Nichtsverdienenden wie sie selbst die beste medizinische Versorgung erwarten dürfen. Ich halte dies wie viele meiner Kollegen für eine klassische Fehldiagnose, nämlich für sozialistisch-kapitalistische Schwarzmalerei. Dass die Vielbeitragszahler nicht in diesem Umfang für die Wenig- und Nichtbeitragszahler, die Jungen nicht für die Alten, die Strebsamen nicht für die Verweigerer, einstehen können, wissen die Politiker und deren Berater und Experten. Und dass der, der es sich leisten kann, neben seiner Krankenkasse für nicht vergütete Leistungen in der Präventiv-, Kur- und Wohlfühlmedizin zusätzliche Vorsorge trifft, das wissen alle. Der unentwegte Gebrauch des Begriffs Solidargemeinschaft aber bedient sich einer einlullenden Sozialromantik, die Unschärfe, ja Unverlässlichkeit provoziert, wo gerade Klarheit, Gerechtigkeit und Konsens besonders vonnöten wäre.

Dabei hat Solidarität in höchstem Maße etwas mit Gerechtigkeit zu tun. Otfried Höffe betont, dass die Solidarität eine normative Zwischenstellung zwischen der nicht mehr geschuldeten Gerechtigkeit und der freiwilligen Menschenliebe einnimmt. Und damit sind wir mittendrin in der Solidargemeinschaftslüge, mit der uns der Staat ein fortdauerndes schlechtes Gewissen vermittelt.

Ursprünglich meinte Solidarität im römischen Recht nämlich eine gemeinschaftliche Haftung (obligatio in solidum) nach dem Prinzip „einer für alle, alle für einen“. Im Laufe der Geschichte entwickelte sich der Solidargedanke zu einem Verhaltenskodex, der umso wirksamer war, je emotionaler sich eine Bindung zwischen den einzelnen Gliedern entwickelte: eine wechselseitige Verpflichtung bis hin zur gegenseitigen Haftung, und zwar in existenziellen Notsituationen. Wir kennen diese Art gegenseitiger Absicherung des „im selben Boot sitzen“ etwa von Brandkassen, Genossenschaftskassen und Versicherungen auf Gegenseitigkeit. So hatte Otto von Bismarck, auf den sich so gern als Urahn unseres deutschen Sozialversicherungssystems bezogen wird, eben diese Absicherung in existenzieller Not und körperlicher Gefahr im Auge, als er das „Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ 1883 im Reichstag durchbrachte.
Höffe arbeitet sehr eindrücklich den Soldaritätsgedanken heraus und grenzt ihn gegen die freiwillige Menschenliebe ab. Bei einer rein selbst verschuldeten Notsituation greift nämlich die Menschenliebe und eben nicht die Solidarität. Wie sonst konnte kirchliche Wohlfahrt, (caritas) jahrhundertelang in unserem Kulturkreis so gut funktionieren, da sie nicht nach dem wieso-warum-weshalb fragte.
Die Krankenversicherung ist, so Höffe, als kooperative Solidarität zu verstehen: Gemeinsames Bewältigen des individuellen Risikos Krankheit, ohne zu wissen, wann es wen wie lange trifft. In diesem System wird der Versicherte nach seiner Leistungskraft gefordert, während er nach seiner Bedürftigkeit empfängt.

Das Grundprinzip unserer Krankenversicherung war und ist die Begrenzung eines materiellen Schadens und damit existenzieller Not, die durch Krankheit entsteht. Die Wahrscheinlichkeit ob und wann der „Versicherungsfall“ eintritt, ist für den Einzelnen gewöhnlich nicht vorhersehbar. Für die Gesamtheit aller Versicherten ist die Krankheit als versichertes Risiko, und der damit verbundene Finanzbedarf, sehr wohl kalkulierbar. Somit funktioniert die solidarische Krankenversicherung durch Umverteilung zwischen Kranken und Gesunden. Das Problem, das der Bürger mit der eingeforderten Solidarität und dieser Umverteilung im System bei der Bemessung seiner Belastung durch Beiträge und Zuzahlungen hat, beginnt dort, wo er das Gefühl einer Ungerechtigkeit verspürt. Das geschieht nämlich dort, wo der Stärkere (hier der Bessergestellte und Gesündere) für den Schwächeren (Schlechtergestellten und Kränkeren) uneigennützig einzustehen hat, wo eigentlich Wohltätigkeit und Nächstenliebe angesagt ist, da diese eine Gegenleistung nie erwartet.

Oft genug spricht der Bürger dem Politiker Rechtschaffenheit (also personale Gerechtigkeit) ab, wenn dieser den Interessen von Lobbys statt dem ganzen Volk dient. Bei den diversen Reformen im Gesundheitswesen der letzten Jahre ist das besonders intensiv zu beobachten: „Die da oben stopfen sich nur die Taschen voll, und wir müssen dafür zahlen“. Eklatant tritt dies zutage, wenn politische Akteure, die die private Krankenversicherung zunächst für die gesetzlichen Kassen instrumentalisieren und damit kaputt machen wollen, keine glaubhafte Erklärung dafür haben, dass sie selbst seit vielen Jahren die Vorteile der privaten Krankenversicherung nutzen und so das solidarische Kassensystem unterwandern. Die allermeisten Bundestagsabgeordneten sind privat versichert!

Bei der Verteilungsgerechtigkeit im Sozialstaat tritt die Gerechtigkeit zwischen den Generationen intensiv zutage. Der viel zitierte Generationenvertrag, den es so gar nicht gibt, umfasst im Prinzip alle Errungenschaften technischer, kultureller und sozialer Art, die wir der nächsten Generation wohl funktionierend zu überlassen haben. Beim Gesundheitswesen, das über Jahrzehnte eine zivilisatorische Infrastruktur aufgebaut hat, bedeutet dies ein „konservierendes Aufsparen“ (Bewahren von Institutionen und Ressourcen [Höffe]). Und gerade das fehlt dem Bürger in den Reformdebatten des Gesundheitssystems. Die Verschiebung vom Investieren zum Konsumieren (wir leben immer mehr „von der Hand in den Mund“, wir „stopfen nur noch Löcher“) bedeutet eine Ungerechtigkeit für die nachwachsenden Generationen. An diese Stelle gehört treffend (und nicht wie gewöhnlich missbraucht) der Begriff der Nachhaltigkeit! Denn gerade für das Gesundheitswesen gilt, dass ein Generationenvertrag nur dann gerecht ist, „wenn man der nächsten Generation keine Hypotheken vererbt, für die man keine entsprechend hohen Bürgschaften mitvererbt“ (Höffe im Kontext Umwelt und Energie).

Weiterführende Literatur: Otfried Höffe: Gerechtigkeit – Eine philosophische Einführung, Verlag c. H. Beck, München 2001