Monat: Juli 2009

Der grundlos Kranke

Ich bin als Arzt umgeben von Kranken, ich meine Ganzkranken, Halbkranken, und von mir so genannten Unkranken. Ich nenne sie deshalb nicht Gesunde, weil sie nicht gesund sind. Gesunde spielen in meinem Beruf nur in so fern eine Rolle, als sie zur Vorsorge vorbeikommen, oder als Genesende Erfolg widerspiegeln, am liebsten meinen eigenen als Therapeuten.

Unkranke sind Menschen, die meinen (fühlen), sie seien krank, an denen ich jedoch auch nach näherer innerer wie äußerlicher Beschäftigung mit ihnen nichts von Krankheitswert erkennen kann. Sie mögen zwar dennoch etwas ihnen Unangenehmes, Lästiges, Abartiges (Abnormales) haben, von denen ich sie jedoch nicht befreien kann. Unkranke sind zweifach „krank“: sie fühlen sich so und lassen nicht ab, ihre Umwelt auch so zu fühlen. Unkranke belasten unser Gesundheitssystem enorm. Die Dunkelziffer ist grenzenlos.

Bei den Kranken steht nach der imperativen Frage „wie krieg ich es weg?“ sogleich die Frage „wie ist es entstanden, was hat es hervorgerufen?“. In diesem Pathogenese-Denken spielt die Frage nach Risiken, welche die Krankheit provoziert oder unterstützt haben, eine große Rolle. War der Leidende zu dick oder zu dünn, hat er sich inadäquat ernährt, hat er sich zu wenig bewegt, hat er geraucht oder getrunken, hat er zu viel oder zu wenig gearbeitet, hat er zu wenig geschlafen? Oder hatte er die falschen Gene, lebt er am falschen (ungesunden) Ort, arbeitet er im falschen (ungesunden) Beruf.

Gott sei Dank gibt es auch Menschen, die einfach so krank werden, grundlos; ohne Schuld der Gene, ohne  eigene Schuld, ohne Schuld von anderen oder anderem; die einfach so krank werden, grundlos  – gottgewollt.

Grundlos Kranke sind mir die liebsten. Sie hadern nicht, nicht mit mir, nicht mit ihren Angehörigen, nicht mit ihrer Umwelt im weiteren Sinne, nicht mit sich selbst. Grundlos Kranke denken an Gott. Sie stellen nicht all die meist unbeantwortbaren Fragen nach dem wie, warum, weshalb, wieso gerade ich? Sie suchen keinen Schuldigen.

Oft habe ich erlebt, dass sie ihr Schicksal dankbar ertragen ob des noch größeren Elends um sie herum. Grundlos Kranke beten, falls ihr Leiden sie drückt.

Rettet die Kur

In Kur gehen, eine Kur verordnet bekommen, Kuren, alles Begriffe, die mit heilen, pflegen, Rekonvaleszenz, das heißt gesundheitlicher Stabilisierung zu tun haben.

Die Kur hat in Deutschland eine Tradition wie sonst nirgendwo. Dabei haben sich verordnete Kuren von einer lukrativen Medizindienstleistung zu einer kriselnden Branche entwickelt. Im Zuge des Sparzwangs haben Rentenversicherungen und Krankenkassen  in den vergangenen drei Jahren immer mehr Kuranträge abgelehnt oder die Kurdauer verkürzt.

Gleichzeitig hat sich in den vergangenen Jahren die Einstellung der Versicherten zu Fehlzeiten und zur Kur als eine Art Urlaub stark gewandelt. Wer früher mitten aus dem Produktionsprozess heraus auf sein rechtes Knie oder auf seinen Rücken eine mehrwöchige Kur „beanspruchte“ und auch bekam, der hat heute eher Angst um seinen Arbeitsplatz. Zwischen 2000 und 2005 ist so die Zahl der Kurpatienten um gut 20% zurückgegangen. Die durchschnittliche Auslastung in den 1300 deutschen Reha-Kliniken ging von 90% Anfang der neunziger Jahre auf knapp 70% zurück.

Dabei geht der Trend längst weg von der konventionellen Heilkur hin zur Anschlussheilbehandlung unmittelbar nach einem Krankenhausaufenthalt. Medizinische Gründe hierfür sind der überstandene Herzinfarkt, die unmittelbar auf eine Krebsbehandlung folgende Stabilisierungsphase, die funktionellen Wiederherstellungsmaßnahmen nach Hüft- und Kniegelenksoperationen, krankhaftes Übergewicht und psychosomatische Krankheiten.

Finanziellen Zwängen folgend werden zunehmend Reha-Maßnahmen aus dem klassischen Kurbereich in ambulante Nachsorgemaßnahmen am Heimatort verlagert. Neben mancherlei Vorteil bleibt hierbei ein wesentlicher Aspekt des Kurens auf der Strecke: der Tapetenwechsel als Abschluss einer schweren Erkrankung, das pausierende Intervall in der Alltagswelt, die gezielte Auszeit an einem angenehmen Ort.

Dringend möchten wir daher plädieren für einen konstruktiven, individuellen Umgang mit der Kur. Was nützen die teuerste Kniegelenkprothese und der exzellenteste Operateur, wenn die ganzheitliche Nachsorgekur wegen Geldmangel auf der Strecke bleibt.

„Haltet den Dieb“ (der das Kurwesen zum Unwesen macht), aber bewahrt die ehrliche Kur als Heilungschance!

Gibt es ein erfolgreiches Älterwerden?

„Die Geburt ist nicht ein augenblickliches Ereignis, sondern ein dauernder Vorgang. Das Ziel des Lebens ist, ganz geboren zu werden, und seine Tragödie, daß die meisten von uns sterben, bevor sie ganz geboren sind“.

Wem diese Herangehensweise des großen Philosophen Erich Fromm an das Thema Älterwerden zu wenig praxisbezogen, zu wenig „alltagstauglich“ ist, der kann es hiermit versuchen: Wie gesund (gemeint ist rundum gesund, so zu sagen kerngesund) kann ich alt werden? Dabei zwingen uns die Hightech-Medizin, die Pharmaindustrie und die Fitness- und Wellnessbranche gern die Frage  „wie kann ich gesund alt werden?“ auf, eine gänzlich untaugliche Herangehensweise an das Thema.
Die moderne Medizin ist leider immer noch vorwiegend krankheitsorientiert. Die Devise lautet „vom Symptom zur Diagnose“, wenn möglich schließt sich eine effiziente (hoffentlich nebenwirkungsarme) Therapie an. Im Mittelpunkt steht die Krankheit und die Ursache dafür. So gesehen ist das Meiste an der modernen Medizin Ursachenforschung nach der Erkenntnis „ohne Ursache keine kausale Therapie“. Das heute immer noch Auf- der- Stelle- Treten bei bestimmten Krankheiten (z. B. Krebs) zeigt die Grenzen dieser Herangehensweise auf.
Die Lösung kann nur in einer neuen Orientierung bestehen, die eigentlich uralt ist, nämlich in der Orientierung auf das Phänomen Gesundheit. Es darf nicht um die Frage gehen „warum ist Krankheit entstanden“ (Pathogenese), sondern „warum ist Gesundheit abhanden gekommen“ und wie kann sie erhalten bleiben (Salutogenese). Dann wird  Prävention, Gesundheitsvorbeugung ein Leben lang zu einem wirkungsvollen, vielleicht sogar glücksbringenden  Instrument der Lebensverlängerung. Und wie gesund der Einzelne älter werden kann, hält er dann zu mehr als der Hälfte in seinen eigenen Händen. Mit den Prinzipien der Salutogenese könnte die Medizin eher ein Älterwerden in Würde, mit den Prinzipien der Pathogenese oft eher das notwendige Funktionieren von Intensivstationen bewirken.

Neben dem Anliegen der heute fast allgegenwärtigen Anti-Aging Bemühungen, dem Leben ein Mehr an Jahren zu schaffen, erscheint doch dieses Ziel noch wünschenswerter: den dazu gewonnenen Jahren quasi mehr Leben, mehr Erfüllung, mehr Stärke zu geben. Denn keiner will das Alter als Lebensphase voller Gebrechen und Leistungsdefizite erleben, sondern legt Wert auf die Chancen, die dieser Reifezeit innewohnen. Einige der Stärken älterer Menschen liegen in

  • der Fähigkeit, die Lebensziele anderer Menschen zu fördern, vor allem die der jüngeren, nachfolgenden Generationen,
  • der Fähigkeit, für sich neue Lebensziele aus dem Akzeptieren der jetzt offensichtlich gewordenen Lebensgrenzen zu finden,
  • der intensiveren Konzentration auf die Zukunft der Gesellschaft.

Ein Teil dessen, was ältere und alte Menschen als Lebenskraft empfinden, entsteht aus diesen Fähigkeiten. Gesundheit im Alter bedeutet aber auch, ein möglichst unabhängiges Leben trotz  mancher Behinderung zu führen, mit dieser Realität zu leben und dabei auch unvermeidbare Verluste in der eigenen Autonomie zu akzeptieren. Als beste Werkzeuge auf diesem Weg haben sich die guten sozialen Kontakte und die Pflege der (Selbst-) Verantwortung erwiesen. Auf diesem Wege kann tatsächlich so etwas wie ein  erfolgreiches Älterwerden entstehen.

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