Ärzte finden sich täglich konfrontiert mit offensichtlicher Selbstheilung (so genannte Spontanheilung) bei Befindlichkeitsstörungen, aber auch  schwerer Erkrankung, für die zunächst kein plausibler Mechanismus im üblichen medizinischen Pathogenesedenken zu finden ist.

Unter  dem allgemein gängigen Pathogenesedenken verstehen wir das Krankheitsprinzip, dass jeglicher Krankheit eine dingliche Ursache, sei es ein Bakterienbefall, bösartiges Zellwachstum, degenerative Organveränderungen (also Abnutzungserscheinungen), sowie mechanische, genetische oder Mangeleinflüsse zugrunde liegt. So wird aus Gesundheit Krankheit. Und falls die richtige Diagnose zur richtigen Therapie führt, wird aus Krankheit wieder Gesundheit.

Diese auf Pathogenese beruhende medizinische Handlungsprinzip ist aber nur die halbe Wahrheit. Denn allein das unterschiedliche Ansprechen auf eine Medizin, der unterschiedliche Ausgang einer Operation trotz äußerlich identischen Ausgangssituationen, der sehr variable Krankheits- bzw. Gesundungsverlauf bei gleichem Krankheitsstadium und identischer Behandlung zeigt schon, dass noch viel mehr Faktoren von Bedeutung sind. So macht  man sich in den letzten Jahren immer mehr eine zweite Herangehensweise als Handlungs- (und Behandlungs-) Prinzip zunutze, das der Salutogenese.

Salutogenesedenken geht gegenüber Pathogenesedenken davon aus, dass sich der Mensch immer in einem bestimmten Stadium von Gesundheit befindet.  Er bewegt sich zu jeder Zeit auf einer Befindlichkeitsachse von „ganz wenig gesund“ (krank im alten Sinne) auf der einen Seite bis „ganz viel gesund“, also heil, auf der anderen Seite. Der Stand auf dieser Salutogenese-Achse wird von ganz vielen persönlichen, also inneren Fähigkeiten beeinflusst. Gesundheitsforscher sprechen von Koheränzfähigkeit. Hiermit meinen sie die Summe aller Entfaltungsmöglichkeiten eines Menschen in Richtung positives Denken, Annahme der jeweiligen Situation, d. h. Mut, Zuversicht und Überlebenswille – um nur einige zu nennen. Hierdurch wird Gesundbleiben oder Gesünderwerden auch zu einem Prozess, in dem natürliche Selbstheilung und Selbstordnung der eigenen Widerstandskräfte zum Zuge kommt.

Die spektakulären Erfolge der westlichen,  naturwissenschaftlich ausgerichteten Medizin haben den Blick dafür verstellt, dass auch bei widernatürlichen therapeutischen Eingriffen wie operative Entfernung oder Ausschaltung von Organteilen, Chemotherapie, oder Zerstörung durch Bestrahlung, alle Heilungen letzten Endes immer auch auf  salutogenetische Fähigkeiten des Organismus zurückzuführen sind. Hierzu gehört insbesondere die  Immunabwehr bei Infektionen oder Krebs, die Wundheilung bei Verletzungen und Eingriffen, das kompensatorische  Wachstum von Restorganen sowie die  Regulation und Adaption im komplexen Stoffwechselgeschehen.

So ist Selbstheilung nichts anderes als die optimale Mobilisierung all dieser salutogenetischen Fähigkeiten, die jedem in individuell ausgeprägter Stärke von Natur gegeben sind.

Zuversicht, Glaube und die Einsicht, dass  Krankheit keine vom Schicksal auferlegte Strafe, sondern etwas Natürliches ist, kann Gesundung und Heilung oft mehr fördern als jeder Arzt. Wahrscheinlich lassen sich solche Kohärenzfähigkeiten, zu denen insbesondere der Glaube daran zählt, dass alles in irgendeinem Sinne gut werden wird, nicht erlernen.